Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio für den besten deutschsprachigen Roman 2023
»Das Stoffuniversum« von Ralph Alexander Neumüller
Verlag p.machinery, AndroSF 94, ISBN: 978-3957653567
Taucht man in einen Text aus dem Science-Fiction-Genre ein, ist zu Beginn fast immer eine Phase der Orientierung in Zeit und Raum notwendig. Unbekannte Technologien und Begriffe werden erwähnt, bisweilen seltsame Verhaltensweisen der handelnden Figuren geschildert bis hin zu Modeerscheinungen, die sich erst im Laufe der Lektüre erschließen. Im vorliegenden Roman wird allerdings auch die Hauptfigur Frank Kurath mit diesen Phänomenen konfrontiert, bisweilen fast täglich, manchmal in größeren Abständen.
Wem der Körper eigentlich gehört, in dem Frank sich nach dem Erwachen wiederfindet, entscheidet offenbar der Zufall. Das soziale Umfeld reicht von Obdachlosigkeit unter Pappkartons bis hin zur Oberschicht in luxuriösem Ambiente. Mal ist er Single, mal lebt er in einer festen Beziehung mit oder ohne Kinder. Meist kommt er in Wien wieder zu Bewusstsein, besser gesagt in einem Wien. Denn wenn auch im Großen und Ganzen die Grundstruktur dieser Stadt unverändert bleibt, insbesondere die Straßenzüge und Gebäude, die bereits vor seiner Geburt bestanden, kann sich Frank in einer von Politik und Technik geprägten Umwelt wiederfinden, die von einem Sprung zum nächsten nicht gegensätzlicher sein könnte. Ein Maßstab dafür ist oft die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre.
Am einfachsten ist es für Frank, wenn er sich im Körper eines Penners wiederfindet. Das erspart ihm die Anpassung an ein komplexes Umfeld. Weder muss er unauffällig Namen und Beruf einer Partnerin in Erfahrung bringen, neben der er aufwacht, noch selbst einem Beruf nachgehen, von dessen Aufgaben und kollegialem Umfeld er nicht sie leiseste Ahnung hat – sich krank schreiben zu lassen, ist oft der beste Ausweg. Was ihm widerfährt, würde ihm ohnehin kaum jemand glauben, außerdem ist ihm als »Springer«, wie er sich bezeichnet, bisher niemand mit ähnlichen Erfahrungen begegnet.
Das ändert sich, als ihm in einer dieser Welten ein Physikprofessor namens Seitlinger empfohlen wird, der möglicherweise eine Erklärung für seinen Zustandswechsel liefern kann. Zu seiner Überraschung wird er von Seitlinger nicht für verrückt gehalten, denn kurz zuvor stellte sich eine Frau beim Professor vor, die mit einer ähnliche Geschichte aufwartete. Diese Sarah Nitzsch ist zwar inzwischen weitergesprungen, aber in einer der nachfolgend aufgesuchten Welten gelingt es Frank, die Springerin tatsächlich aufzuspüren. Die beiden starten eine Aktion, um die Aufmerksamkeit weiterer Leidensgenossinnen und -genossen zu erregen und sie einzuladen, im jeweiligen Wien zu einer bestimmten Uhrzeit in eine bestimmten Straße zu kommen.
Tatsächlich findet sich dort im Laufe der Zeit eine kleine Gruppe von »Springern« ein, Frauen und Männer jeden Alters, deren Charakter und Einstellungen von den Welten geprägt sind, in denen sie im Laufe ihres Lebens erwachten. Auch Professor Seitlinger existiert meist in einer der Welten des Multiversums, worauf seine Theorie der Weltenspringer basiert. Da keine materiellen Objekte mitreisen können, lassen sich nur die im Gehirn gespeicherten Informationen weitergeben. Seitlinger schöpft so das Wissen einiger Springer ab und nutzt dies oft zu seinem persönlichen Vorteil in Wissenschaft und Politik.
Ralph Alexander Neumüller beschreibt in diesem Roman in konzentrierter Form Dystopien, aber auch Welten, die sich infolge vernünftiger Weichenstellungen in eine positive Richtung entwickelt haben. Technologische oder soziale Konzepte reihen sich aneinander, die in der Vergangenheit unserer eigenen Welt hätten umgesetzt werden können oder in unserer Gegenwart immer noch das Ruder herumreißen könnten. Die Schilderungen des Ich-Erzählers über seine Außen- und Innenwelt bieten reichlich Ansatzpunkte, sich über den Zustand unserer eigenen Welt Gedanken zu machen.
In der Science-Fiction-Literatur muss nicht immer weit ausgeholt werden in Sachen Weltenbau bestückt mit einer Vielzahl handelnder Figuren auf Hunderten von Seiten. Hier genügt der Fokus auf wenige Personen, die wortwörtlich in eine Welt hineingeworfen werden. Ihre Sorgen und Entscheidungen bringt uns der Autor in einer Weise nahe, das an ein Zitat von Philip K. Dick erinnern lässt: »Wenn Sie diese Welt schlecht finden, dann sollten Sie mal einige der anderen sehen.«
Daher freut sich das Komitee, »Das Stoffuniversum« von Ralph Alexander Neumüller mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2024 auszuzeichnen.
Thomas Recktenwald
– für das Preiskomitee –
Mai 2025