Fabian Vogt:
Zurück
Wir alle – egal ob Mensch, Tier oder Bakterie – kennen nur eine einzige Erfahrung: vorwärts! Tag für Tag, quasi Schritt für Schritt, folgen wir dem Zeitpfeil in diese Richtung. So kennen wir es, so sind wir es gewohnt. Doch was, wenn wir nach jedem Schritt vorwärts 365 Schritte zurückversetzt werden? Was, wenn auf den 25. August 2001 der 26. August 2000 folgt? Was, wenn es nicht mehr mit kleinen Schritten vorwärts geht, sondern mit Riesensätzen zurück?
Genau dies passiert Maximilian Temper. Beginnend mit dem Jahreswechsel 1999/2000 wird er jeden Tag um ein Jahr zurückversetzt. Zutiefst erschreckt und verwirrt sucht er, seiner gewohnten Umgebung entrissen, Zuflucht in der Gartenlaube der Eltern. Schnell begreift Max, dass er jener Penner ist, der jedes Jahr das kleine Häuschen aufbrach und seinen Vater zur Verzweiflung brachte. Um der Reise durch die Zeit überhaupt einen Sinn abzugewinnen, drängt er sein jüngeres Ich zu dem Studienwechsel, den er schon längst vollzogen hat.
Aber mit dem Verstreichen seines Geburtsjahres verfällt Max wieder in tiefe Resignation. Das „Wie“ seiner Reise bleibt verborgen, ja schlimmer noch, das „Warum“ bleibt verborgen. Der unfreiwillige Zeitreisende ist dem Vorgang weiter hilflos ausgeliefert. Mit wachsender Mutlosigkeit taumelt er rückwärts durch die Jahre, bis er vom Maler Antoon van Dyke von einem Selbstmordversuch abgebracht werden kann. Der Maler ermutigt ihn, die Erlebnisse seiner Reise aufzuschreiben.
Dies hilft Maximilian, seine Situation zu akzeptieren und mit ihr zurechtzukommen. Er löst sich von seiner Vergangenheit und versucht, den Sinn des Phänomens zu enträtseln. Rastlos durchwandert er ein Europa, das aus seiner Sicht zunehmend vom Christentum geprägt ist. So ist es schließlich auch ein Mönch des Mittelalters, der ihm sagt an wen er sich wenden soll: Reise nach Jerusalem und frage Jesus Christus!
Fabian Vogt stellt den Mensch in den Mittelpunkt seines Romans. Ausführlich beleuchtet er den Protagonisten, der der gewaltigen Macht des unverständlichen Ereignisses schutzlos preisgeben ist und doch zugleich auch gewaltige Macht besitzt, weil er mit seinem Wissen um die Zukunft die Vergangenheit manipulieren kann. Maximilian Temper pendelt zwischen Versuchung und Verantwortung. Letzterer wird er nicht immer gerecht, man denke etwa an die Manipulation seines jüngeren Ichs oder die Auftritte als Wahrsager in einem kleinen norddeutschen Fischerdorf.
Zweifel und Zuversicht über die Richtigkeit seines Tuns wechseln sich ab, denn wenn er auch nicht an den Brennpunkten der Weltgeschichte auftaucht, so doch an Orten und Zeitpunkten, an denen wichtige Entscheidungen zur Entwicklung des Abendlandes getroffen werden. Temper avanciert so zu einem Held mit Widersprüchen und ist darin nur allzu menschlich.
Das Buch ist keine dröge Betrachtung der Vergangenheit. Der Autor weiß gekonnt kurzweilige und fesselnde Elemente in den Roman einzubauen und damit den Leser im Bann zu halten. Souverän meistert er die Gegenläufigkeit der Zeitebenen, denn was für die Welt Vergangenheit ist, liegt für Max noch in der Zukunft. Daraus entwickeln sich vergnügliche und spannende Geschichten. Ein Buch, nicht nur zum Nachdenken anregend, sondern auch unterhaltsam.
Ebenso wie zwei Jahre zuvor Andreas Eschbach kann auch Fabian Vogt dem Thema Zeitreise noch interessante Fassetten abgewinnen. Es ist schon ein literarisches Kunststück, eine Erzählweise zu finden, um das Leben eines Menschen zu schildern, der jeden Tag um ein Jahr zurückversetzt wird. Das Komitee würdigt mit dem DSFP diese rundum gelungene literarische Leistung – dabei wäre allein schon die Idee preiswürdig gewesen.
Udo Emmerich
– für das Preiskomitee –
August 2001