Laudatio 2016 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

ph57-web-big»Operation Gnadenakt« von Frank Böhmert.
In: phantastisch 57. Atlantis-Verlag. Ausgabe 1/2015. ISSN 1616-8437

Durch den Übergabebrief seines Amtsvorgängers neugierig geworden, informiert sich im Jahr 2033 der amerikanische Präsident bei seinem Verteidigungsminister über das »Projekt Gnadenakt«.

Adolf Hitler wird seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Cheyenne Mountain gefangen gehalten. Unter Einsatz der besten medizinischen Mittel hält man ihn am Leben. In seinem Gefängnis fristet er sein einsames, armseliges Dasein. Gesellschaft leistet ihm nur ein Nachfolger seines Schäferhundes Blondi. Hitler malt gelegentlich Bilder. Anfangs im Jackson-Pollock-Stil, später Heiligenbildchen.

Seine eigentliche Strafe besteht darin, dass seine Gefängniswärter ihn ungefiltert mit Nachrichten, Literatur, Musik und ähnlichen Erzeugnissen der Gegenwart versorgen. Somit erfährt er, wie sich nach dem Ende des Naziregimes die Welt entwickelt hat. Er soll sehen, wie sich das Judentum, kapitalistische Demokratien, farbige Untermenschen und entartete Kunst entwickelt haben, ohne dass er etwas dagegen tun kann.

Durch die Person des Präsidenten, der stellvertretend für das Volk und natürlich für den Leser steht, wird die ganze Tragweite der »Operation Gnadenakt« offenbar. Hitler wird nur am Leben erhalten, um ihm zu zeigen, wie sich die Welt trotz seiner und durch ihn entwickelt hat. Die »Operation Gnadenakt« ist eigentlich geplant als tausendjähriger Racheakt.

Dass die Langzeitisolation der Wissenschaft Erkenntnisse gebracht hat, die dem Marsflug weiterhelfen, und die Biotechnologien der Medizin Fortschritte gebracht haben, ist eher eine zynische Randbemerkung.

Frank Böhmert schafft es in seiner Kurzgeschichte »Operation Gnadenakt«, die richtigen Fragen zu stellen. Darf man einen Menschen wie Adolf Hitler gegen seinen Willen am Leben erhalten? Darf man ihn foltern, indem man ihm tausend Jahre lang vorführt, wie sich die Welt entwickelt? Hat nicht selbst ein Mensch wie Hitler ein Recht auf Gnade? Darf irgendjemand – in diesem Fall die amerikanische Regierung – sich über einen anderen Menschen gottgleich erheben, ihn am Leben erhalten, nur um ihn zu demütigen und zu bestrafen? Sinken die »Bestrafer« damit nicht auf die gleiche Stufe wie der Verbrecher? Ist es für einen »normalen Menschen« unmöglich, Mitleid für Hitler zu empfinden? Was passiert denn wenn sich die Welt anders entwickelt? In eine Richtung, die Hitler gefallen hätte. Wird er dann getötet, weil es ja dann keine Strafe mehr ist? Sollte die Gesellschaft nicht über solche Strafmaßnahmen informiert werden? Hitler war kein Einzeltäter, was ist mit seinen Helfern, Mitläufern, Gesinnungsgenossen?

Der Autor stellt diese Fragen – glücklicherweise ohne die Antworten zu liefern.

Wie es bei einer guten Kurzgeschichte sein sollte, wird der Leser mit Fragen konfrontiert. Diese sind nur auf den ersten Blick einfach zu beantworten. Dass Hitler ein übler Verbrecher und Massenmörder war, kann kaum ernsthaft angezweifelt werden. Aber ist eine solche Strafe moralisch und gesetzlich vertretbar?

Gerade in der heutigen Zeit, in der rechte Tendenzen und nationales Denken wieder stärker in den Vordergrund treten, ist diese Geschichte ein wertvoller Beitrag zu einer Diskussion, die man eigentlich schon ausdiskutiert wähnte. In einer Gesellschaft, in der schon fast reflexhaft nach stärkeren, schnelleren und abschreckenderen Strafen verlangt wird, manchmal unabhängig davon, ob Täter und Opfer schon feststehen, tut es gut, sich mit einer solchen Geschichte auseinanderzusetzen und das eigene Denken zu überprüfen.

Frank Böhmert regt zum Nachdenken an, hält dem Leser einen Spiegel über das eigene moralische Denken vor. Das macht er so gut, dass diese Geschichte im Gedächtnis haften bleibt.

Aus diesen Gründen zeichnet das Komitee »Operation Gnadenakt« von Frank Böhmert mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2016 als beste Kurzgeschichte aus.

Für das Preiskomitee im August 2016
Kevin Heinen
Wiesbaden