Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio bester deutschsprachiger Roman 2023:
»Athos 2643« von Nils Westerboer
Klett-Cotta Hobbit-Presse, 432 Seiten, ISBN 978-3-608-98494-1
»Nachdem sie aufgehört hatte, ihn zu lieben, benötigte die Hausfrau Tilla Lundström aus Dunö vier Jahre und dreiundneunzig Tage, um ihren Mann schuldfrei zu töten.«
So beginnt der Prolog dieses Romans, in dem der Autor ein juristisches Dilemma schildert. Nicht gerade etwas, das man von einem SF-Roman erwartet, aber es macht neugierig. Was hat dieser Fall mit der eigentlichen Geschichte des Romans zu tun?
Rüd ist ein Spezialist für die Überprüfung von KIs, ein Inquisitor. Mittels philosophischer Dilemmata überprüft er, ob die jeweilige KI von ihrer Programmierung abweicht oder nicht. Im Falle einer Abweichung erhält die jeweilige KI ein Upgrade. An seiner Seite ist Zack, eine KI, die seine Wünsche erfüllen soll, ihn bei Laune halten und auf ihn aufpassen. Da Rüd sich als Partner eine Frau wünscht, erscheint Zack ihm als solche. Der Leser wird sie automatisch auch als weiblich ansehen und vielleicht Rüd übelnehmen, wie er mit ihr umgeht. Zack erzählt die Geschichte, und ihre Meinung zu dem Mitleid für sie beschreibt sie so: »Erstens fühle ich nichts. Zweitens muss ich mir, anders als die meisten Menschen, das Privileg eines Daseinszwecks nicht herbeireden, denn ich habe einen.« (S. 29)
Dann ist gleich am Anfang noch der Wirt, der seine Spülmaschine nicht benutzt und von dieser deshalb erpresst wird. Damit sind die Grundideen des Romans gelegt, es geht um gebraucht werden, um Daseinsberechtigung und um Freiheit. Freiheit innerhalb der Obhut. Die Obhut ist die Regierung dieser Welt, »ein Kollektiv der föderal organisierten lebenserhaltenden Intelligenzen im Sonnensystem mit übergeordneter Weisungsbefugnis« (Glossar S. 429), in der alle durch KIs beschützt werden. Wie kann es also sein, dass ein Mensch stirbt, der unter der Obhut stand? Hat die KI versagt? Egal ob Mord, Selbstmord oder Unfall, unter dem Schutz der KI hätte nichts passieren dürfen. Also muss Rüd nach Athos fliegen und diese KI verhören. Die »lebenserhaltenden Intelligenzen« befinden sich in einem von zwei ethischen Modi. Entweder ist dies »util« für »utilitaristisch«, bei der »das größtmögliche zukünftige Wohl der größtmöglichen Menge von Betroffenen maßgeblich für eine Handlung ist« (Glossar, S. 431). Die andere ethische Einstellung ist »deon«, bei der nur »die ethische Güte der Handlung selbst« (Glossar, S. 438) beurteilt wird. Muss Rüd die KI auf Athos, einem kleinen ausgehöhlten Neptunmond, upgraden?
Auf Athos gibt es eine kleine Siedlung von Cönobiten, entbehrungsreich und abgeschieden lebenden Geistlichen. In den Ethik-Modus »deon« soll Rüd die Stationsintelligenz MARFA versetzen, da sie für den Tod des Mönchs verantwortlich ist. Er versucht herauszufinden, wie genau es zu diesem Tod kommen konnte. Dabei lernt er die anderen Mönche kennen, es gibt weitere Todesfälle, und langsam entdeckt er einen größeren Plan dieser scheinbar so zufällig zusammengewürfelten Gruppe.
Das Buch hat viele kurze Kapitel in zwei Teilen, die nach den unterschiedlichen ethischen Einstellungen benannt sind. So findet der Leser viele spannende und gut erzählte philosophische Dilemmata, Paradoxa und Geschichten, die zunächst wahllos erscheinen, dann aber immer wieder im Roman auftreten und auf die eine oder andere Weise gelöst werden müssen. Sehr spannend ist der Schlüssel, den man aus dem Prolog gewinnen kann, der später erklärt, was auf Athos geschehen ist, und es schließlich doch nicht erklärt.
Im ersten Teil dominiert die Frage danach, was Freiheit ist. Eine KI upzugraden, ist gleichzusetzen mit einer Löschung der alten Persönlichkeit. Zunehmend muss Rüd darüber nachdenken, ob er das Recht hat, dies zu tun. So ändert sich auch sein Verhältnis zu Zack. Die Geschichte wird immer verwickelter, und Rüd muss immer stärker auf Zacks Möglichkeiten zurückgreifen, bis er erkennt, dass er ihre Beschränkungen aufheben und sie freilassen muss, damit sie das Problem lösen können. Schließlich gibt er sie auch aus ihrer Aufgabe, ihn zu betreuen, frei.
Der zweite Teil thematisiert die Frage, wie frei man ist, wenn man keine Aufgabe hat, wenn man alles kann, aber kein Ziel hat. So geht es Zack. Sie muss sich fragen, wozu sie existieren soll, wenn sie frei ist. Bis sie erkennt, dass sie nun auch frei ist, sich selbst eine Aufgabe zu stellen. Diese Unsicherheit wird sehr spannend geschildert.
Vom Erzählstil her ist interessant, wie sich verschiedene Spannungsbögen überlappen, wie Fakten auf unterschiedliche Weise erzählt werden, bis zur Exegese philosophischer Texte und von Texten aus der Bibel. Eine besondere Interpretation des Rauswurfs von Adam und Eva aus dem Paradies erinnert an Neil Gaiman: »Dieser seltsame Herr […] wollte nie, dass die Menschen in seinem Paradies bleiben.[…] Was er nicht gesagt hat, der seltsame Herr, als sie draußen waren: Danke, dass ihr jetzt Schuld für mich übernehmt. Danke, dass ihr jetzt über Gut und Böse richtet und ich das nicht mehr muss. Ich bin fein raus. Danke, dass ihr macht, was ihr wollt.« (S.411)
Freiheit bedeutet Verantwortung, aber wofür? Vielleicht ist die Antwort: für sich selbst?
Das Verhältnis von Zack und Rüd und insbesondere die Entwicklung von Zack gehört zu den Highlights des Buches. Dabei geht es oft um die Frage, was uns als Menschen von Künstlichen Intelligenzen eigentlich unterscheidet und eine wichtige Antwort ist: unsere »Fähigkeit«, vergessen zu können.
Viele kluge Gedanken finden sich in diesem Buch, verpackt in eine spannende, actionreiche und berührende Geschichte, erzählt von einer KI, die menschlicher denkt als viele Mitmenschen. Ein großartiges Buch, in dem es um Entscheidungen, insbesondere ethische Entscheidungen geht. Eingebettet ist dies in einen komplexen Weltenbau, eine spannende Handlung und eine wunderbar beschriebene Mensch-Maschine-Beziehung.
Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Athos 2643« von Nils Westerboer mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2023 auszuzeichnen.
Sabine Seyfarth, Franz Hardt
– für das Preiskomitee –
im Oktober 2023