»Don’t Be Evil« von Tom Turtschi
in: Michael Haitel [Hrsg.] und Michael K. Iwoleit [Hrsg.]: »Nova 28«
p.machinery, ISBN-13 978-3-95765-326-5, ISSN 1864-2829
Frieden im Nahen Osten. Menschen aller Religionen, Krieger und Zivilisten, liegen sich in den Armen und tanzen jubelnd durch die Straßen. Redakteur Prelinger kann nicht so recht glauben, was sein bester Reporter Hendry per Videobotschaft aus dem Krisengebiet berichtet, aber immer mehr Medien verbreiten die schier unglaubliche Nachricht. Schon kehren die ersten Flüchtlinge aus dem Exil in ihre Heimat zurück.
Da erhält Prelinger in konspirativer Manier einen Bericht in Papierform von Hendry, an der Zensur vorbeigeschmuggelt. Seine Videos wurden manipuliert, schreibt er, seine Systeme gehackt. Was zuerst wie eine krude Verschwörungsfantasie klingt, entpuppt sich schnell als schonungsloser Kriegsbericht. Es gibt keinen Frieden, keine feiernden Menschen. Weite Landstriche sind verwüstet. Drohnen schießen auf alles, was sich bewegt. Wie ein Geist bewegt sich Hendry durch verlassene Orte, sucht Schutz in Ruinen, nie sicher, ob er den nächsten Tag noch erlebt. Irgendwann trifft er einen kleinen Jungen, der inmitten der Ödnis Waren feilbietet: elektronische Implantate, die aus den Körpern toter Soldaten geschnitten wurden. Hendry wird diesem Jungen noch öfter begegnen, und jede Begegnung wird ihn der Erkenntnis näher bringen, dass die Menschen, ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen, diesen Konflikt längst verloren haben. Sie sind nur noch Zielscheiben für intelligente Waffensysteme, deren Direktive ganz einfach ist: alles Leben auszulöschen. »Ich bin infiltriert«, schließt Hendry seinen Bericht und fleht seinen Redakteur an, ihn zu veröffentlichen.
»Don’t Be Evil« von Tom Turtschi ist eine Geschichte über die Zukunft der Kriegsführung. In Turtschis erschreckend realistischem Szenario werden Soldaten mit elektronischen Implantaten und intelligenten Kampfanzügen hochgerüstet, Drohnen feuern aus der Luft auf jede Biosignatur, die sie orten, und Schwärme von Minirobotern töten binnen Sekunden jedes Lebewesen. Man braucht nicht lange zu suchen, um die Ansätze dieser Technik schon in unserer Gegenwart zu finden. Aber die Soldaten in dieser Zukunft sind keine Supersoldaten. Sie werden zu bloßen Objekten degradiert, ferngesteuert wie Drohnen, einer Technik ausgeliefert, die sie nicht mehr beherrschen und vor der sie sich fürchten. In seinem Bestreben, immer tödlichere und raffiniertere Waffen zu entwickeln, hat der Mensch intelligente Waffensysteme geschaffen, künstliche Intelligenzen, die mit ultimativer Effizienz zu Werke gehen und sogar Nachrichten manipulieren, um weitere Menschen anlocken und eliminieren zu können.
So ist »Don’t Be Evil« zugleich auch eine Geschichte über die Sinnlosigkeit des Krieges. Nicht durch Beschreibungen blutiger Schlachten oder entsetzlicher Gräuel wirkt Tom Turtschis Geschichte so beklemmend, sondern durch die eindringliche Schilderung dessen, was der Krieg übrig gelassen hat. Turtschi schickt seinen Reporter auf einen Marsch durch ein zerstörtes, entvölkertes Land. Auf die wenigen Male, in denen er auf ein lebendes Wesen trifft, folgt unmittelbar dessen Auslöschung. An keiner Stelle wird das ganze Grauen des Konflikts augenfälliger als in der gezielten Tötung einer Herde von Gazellen, deren unwirkliche Schönheit inmitten der Ödnis Hendry gerade noch bewundert hat, durch eine Schar von Killerrobotern.
»Don‘t Be Evil – Sei nicht böse« war einst der Slogan eines großen Internetkonzerns, der angetreten war, die Welt zu verbessern. Auch die Rüstungsfirmen werden nicht müde zu betonen, dass ihre Entwicklungen die Welt besser und sicherer machen. In Turtschis Zukunft werden die Versprechungen ethischen Handelns als hohle Phrasen entlarvt. Bei der Suche nach der ultimativen Waffe und dem Streben nach dem größten Profit ist für Ethik kein Raum. In letzter Konsequenz leitet die Menschheit damit ihren eigenen Untergang ein.
»Don’t Be Evil« ist ein eindringlicher Appell, trotz aller verheißungsvollen neuen Technologien Ethik und Moral – das, was uns letztlich menschlich macht – nicht über Bord zu werfen. Aber Tom Turtschis Geschichte enthält auch die Hoffnung, dass die Menschen nicht schweigend zusehen und sich einer Zukunft, wie Turtschi sie zeichnet, entgegenstellen werden – keine Krieger, keine Supermänner. Turtschis Helden kämpfen mit Bleistift und Schreibmaschine. Gerade in der heutigen Zeit, in der Reporter auch hierzulande angefeindet, als Verbreiter von Lügen verunglimpft und sogar körperlich angegriffen werden, erinnert er uns damit an den Wert und die Wichtigkeit einer freien Presse.
Aus diesen Gründen zeichnet das Komitee »Don’t Be Evil« mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2020 als beste Kurzgeschichte aus.
Christine Witt
– für das Preiskomitee –
im Juli 2020