English translation below.
Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio beste deutschsprachige Kurzgeschichte 2021:
»Wagners Stimme« von Carsten Schmitt
in »Wie künstlich ist Intelligenz?«, herausgegeben von Klaus N. Frick, PLAN9 Verlag, Hamburg, ISBN-13 978-3-948700-02-7, E-Book ISBN-13 978-3-948700-08-9
»Jedes neue Loch in seinem Kopf gibt der Stimme ein wenig mehr Raum. Das sei nicht schlimm, sagen die Ärzte, denn die Stimme und er, das sei praktisch ein und dasselbe.«
Herr Wagner hört eine Stimme in seinem Kopf, eine Stimme, die ihm im Alltag hilft, in einem Alltag, den er alleine immer weniger bewältigen kann. Denn Herr Wagner leidet an Alzheimer, und eine implantierte Künstliche Intelligenz soll ihm helfen.
»Ich werde dafür sorgen, dass deine Persönlichkeit so lange wie möglich erhalten bleibt.« Herr Wagner lacht, als er die Stimme in seinem Kopf hört.[…] »Es klingt wie ich.«
In der Science-Fiction ist das Thema der Künstlichen Intelligenz nicht neu, es sei nur an den Computer HAL 9000 aus »2001: Odyssee im Weltraum« erinnert. Meist waren die daraus folgenden Geschichten jedoch eher Konfrontationen zwischen Menschen und den von ihnen geschaffenen Intelligenzen. Carsten Schmitt beschreibt in seiner Geschichte eine KI, die den Menschen hilft, ihre Persönlichkeit trotz der Krankheit zu bewahren, indem sie als Stimme im Kopf Hilfestellungen leistet und Kranken die Welt erklärt.
Wir erleben, wie die Stimme trainiert wird, mit Wagners Erinnerungen und Emotionen. Dabei gibt es Dinge, die er nicht mehr weiß, und solche, die er nicht mehr wissen will. So möchte Jens Wagner beispielsweise mit seiner Tochter nichts mehr zu tun haben, da er ihr sehr übel nimmt, nicht zur Beerdigung ihrer Mutter gekommen zu sein.
Dem Autor gelingt es mit großem Einfühlungsvermögen, Wagners Ängste, seine Versuche, ein normales Leben zu führen, und schließlich seine zunehmende Orientierungslosigkeit und seine Verlorenheit zu schildern. Der fortschreitende Verfall des Protagonisten nimmt den Lesenden mit auf eine Reise ins Nichts. Dabei gelingt dem Autor das Kunststück, die künstliche Intelligenz, die zuerst eher penetrant und besserwisserisch daherkommt, in ihrem Bemühen, ihre Aufgabe zu erfüllen, mitfühlend wirken zu lassen, was ihr Menschlichkeit verleiht. Sie will Wagner helfen, gerät dabei aber zunehmend an ihre Grenzen, denn auch »Wagners Stimme« kann den fortschreitenden Verfall nicht aufhalten. Sie kann nur lindern, den Verlust hinauszögern.
Am Ende übernimmt sie es, für Jens Wagner zu entscheiden, als er es nicht mehr kann:
»Sie muss eine Entscheidung treffen, muss sie so treffen, wie er, sie, es tun würde.« Hier schließt sich der Kreis zum Beginn, als die Ärzte schon meinten, die Stimme und er, das sei praktisch ein und dasselbe. Ganz am Schluss gelingt Herrn Wagner doch noch einmal eine Kontaktaufnahme mit seiner Tochter, aber sie ist ihm in diesem Moment völlig fremd, und ist wirklich er es noch, der den Kontakt aufnimmt?
Ein aktuelles Thema aus der Medizin, eine beängstigende und realistische Schilderung eines geistigen Verfalls verknüpft mit einem neuen Blick auf eine klassische Science-Fiction-Idee in einer langsam und behutsam erzählten, wunderbaren berührenden Kurzgeschichte. Eine Geschichte, die nachdenklich macht und an die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit erinnert.
Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Wagners Stimme« von Carsten Schmitt mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2021 auszuzeichnen.
Yvonne Tunnat, Franz Hardt
– für das Preiskomitee –
im November 2021
English translation
German Science Fiction Award
Laudatio best German-language short fiction 2021:
»Wagner’s Voice« by Carsten Schmitt
in »Wie künstlich ist Intelligenz?«, edited by Klaus N. Frick, PLAN9 Verlag, Hamburg, ISBN-13 978-3-948700-02-7, e-book ISBN-13 978-3-948700-08-9
»Every new hole in his head leaves a void for the Voice to fill. The doctors say he shouldn’t be worried, since he and the Voice are practically the same thing.«
Mr. Wagner hears a Voice in his head, a Voice helping him in his daily routine, a routine he alone can less and less cope with. For Mr. Wagner is afflicted with Alzheimer’s, and an implanted Artificial Intelligence shall help him.
»I will preserve your personality for as long as possible.« Mr. Wagner laughs when he hears the Voice in his head. […] »It sounds just like me.«
In Science Fiction the topic of Artificial Intelligence isn’t new, just remember the computer HAL 9000 from »2001: A Space Odyssey«. Though mostly the resulting stories were rather confrontations between humans and the Intelligences made by them. Carsten Schmitt describes in his story an AI who helps the humans to preserve their personality in spite of the disease by providing support as a voice in the head and by explaining the world to the sick.
We experience how the Voice is trained with Wagners‘s memories and emotions. There are things he no longer remembers, and those he doesn‘t want to remember. For example, Jens Wagner disavowed his daughter, because he very much resents her for not attending her mother‘s funeral.
The author succeeds with great empathy to portray Wagner‘s fears, his attempts to lead a normal life, and ultimately his increasing disorientation and reclusion. The progressive deterioration of the protagonist takes the reader onto a voyage into nothingness. Thereby the author manages a sleight of hand: The artificial intelligence, who initially comes across rather pushing and smart-alecky, in its endeavor to fulfill its responsibility develops compassion, which bestows humanness onto it. It wants to help Wagner, but increasingly reaches its limits, as even »Wagner’s Voice« cannot impede the advancing decline. It can only ease, postpone the loss.
At the end it takes over the decision-making for Jens Wagner, when he is no longer able to:
»It needs to make a decision, has to make it the way he—it—would do it.« Here the remark of the physician at the beginning that the Voice and he are practically the same thing comes full circle. At the very end Mr. Wagner eventually manages a new contact with his daughter, but in this moment she is a total stranger to him, and is it really still he who establishes contact?
A current topic of medicine, a frightening and realistic portrayal of a mental expiration interlaced with a new view on a classical Science Fiction idea in a steadily and gently narrated, wonderfully touching short story. A thought-provoking story brings to mind the own vulnerability and mortality.
For these reasons the committee is pleased to adjudge the German Science Fiction Award 2021 to »Wagner’s Voice« by Carsten Schmitt.
Yvonne Tunnat, Franz Hardt
– for the Award Committee –
in November 2021
English translation by Martin Stricker