Laudatio 2003 Bester deutschsprachiger Roman

Oliver Henkel:
Kaisertag

Das Ambiente – bekannt: ein kleines, etwas schmuddeliges Büro; der Privatdetektiv, der sich gerade eben so durchs Leben schlägt; die geheimnisvolle Schöne, die ihn um seine Hilfe bittet. Das Umfeld – ungewöhnlich: das Deutsche Reich. Es regiert der Kaiser, Militärparaden gehören zum alltäglichen Straßenbild, die Dienstmädchen tragen weiße Schürzen, und in die neue Welt fliegt man mit dem Zeppelin. Die Zeit – spektakulär: Mai 1988.

Richtig, Oliver Henkel entführt uns wieder in eine Alternativwelt. Eine Welt, in der das Attentat von Sarajewo missglückte und der Erste Weltkrieg nie stattgefunden hat. Das Kaiserreich besteht fort und zählt zusammen mit England und Frankreich zu den Supermächten dieser Zeit.

Der Privatdetektiv Friedrich Prieß erhält den Auftrag, die Hintergründe eines Selbstmords zu ermitteln. Eigentlich lässt man von so was ja besser die Finger, besonders wenn der Tote Offizier des Reichsamtes für Militärische Aufklärung war, aber das Honorar ist einfach zu verlockend. So nimmt sich Prieß denn der Sache an, die nicht nur zum Wiedersehen mit seiner alten Heimatstadt Lübeck wird, sondern auch mit seiner früheren Verlobten Alexandra Dühring, die jetzt Polizeipräsidentin der Hansestadt ist. Man kann es sich schon denken: natürlich handelt es nicht um Selbstmord. Und wenn der Tote für die Reichsregierung tätig war steckt weit mehr dahinter als sich zunächst erahnen lässt. Nach und nach entwickeln sich die Ermittlungen für Prieß zum Fall seines Lebens…

„Kaisertag“ ist nicht einfach nur ein Krimi, sondern ein Alternate-History-Roman von erstaunlicher Qualität. Stück für Stück entfaltet sich vor unseren Augen ein verloren gegangenes Deutschland, das von der ersten Seite an fasziniert und durch die detaillierte Recherche des Autors eine ungeheure Lebendigkeit annimmt. Bestechend wie es dem Autor dabei gelingt auch immer wieder Persönlichkeiten unserer Welt in sein Universum einzuflechten – zwischendurch auch mit einem Augenzwinkern, wenn etwa der neueste Dixon-Hill-Film erwähnt wird, mit Patrick Stewart in der Hauptrolle. Darin eingebettet und nie vergessen eine spannend geschriebene und intelligent komponierte Story um die politischen Verstrickungen und Geheimnisse der „neuen“ Kaiserzeit.

Man darf dabei nicht dem Irrtum unterliegen, Henkel glorifiziere diese Epoche der deutschen Geschichte. Keinesfalls. In vielen Details erleben wir eine Gesellschaft, die sich zu wandeln beginnt und die Fesseln des preußischen Militarismus abstreifen will. Polizeipräsidentin Dühring ist nur das offensichtlichste Beispiel dafür. So wird dieses Buch nicht nur ein rasanter Thriller, der bis zur letzten Seite fesselt, sondern auch eine Geschichte um Emanzipation, persönlichen Mut und das Einstehen für die eigenen, persönlichen Belange.

Eine Kombination, die sich nicht häufig in der deutschen Science Fiction finden lässt. So ist es dem Komitee eine Freude, auch in diesem Jahr Oliver Henkel den Deutschen Science Fiction Preis für den besten Roman des Vorjahres überreichen zu dürfen.

Udo Emmerich
– für das Preiskomitee –
September 2003