Marcus Hammerschmitt:
Die Sonde
Es kommt selten vor, daß von einem Autor mehrere Geschichten für den SFCD-Literaturpreis nominiert werden, bei Marcus Hammerschmitt waren es gleich vier aus seiner bei Suhrkamp erschienenen Sammlung „Der Glasmensch“. Und umso bemerkenswerter ist es, daß er trotz Konkurrenz durch sich selbst mit „Die Sonde“ auch den Preis gewinnen konnte.
Daß es gerade diese Geschichte von den vieren war, stellt für mich dann wiederum keine Überraschung dar, sie war auch mein Favorit gewesen.
Frank, ein deutsch-amerikanischer Astronaut steht kurz vor der Erfüllung seiner Träume, zusammen mit einem russischen Kollegen wird er als erster Mensch den Boden des Mars betreten. Auf dieses Ziel hin hat er sein ganzes Leben ausgerichtet, sogar riskiert, seine Frau zu verlieren. Bei seiner Mission steht er unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, vorangetrieben vom „Sängerclub“ einer Geheimorganisation alternder Astronauten mit viel Macht, die die Zukunft der Menschheit im All sieht – jedenfalls eines Teils; dem richtigen natürlich. Soweit ein bekanntes Szenario, wie es die technikorientierte Science Fiction in vielen Variation durchgespielt hat. Hammerschmitt zeigt sich dabei als versierter Nachfolger großer Vorbilder. Doch diese äußere Handlung ist nur die Grundlage für das eigentlich Drama der Geschichte. Frank hat, damit er die vielfältigen computergesteuerten Apparate an Bord des Raumschiffs direkt steuern kann, einen Mikrocomputer in seinen Schädel implantiert bekommen – eben besagte Sonde. Und diese ist offensichtlich die Ursache dafür, daß er auf seiner Reise immer mehr in eine Traumwelt abgleitet.
Erinnerungen überkommen ihn, deren Wahrheitsgehalt er aber in Frage stellen muß; und auch dem Leser werden die Orientierungspunkte zunehmend entzogen. Der Bordcomputer des Raumschiffs erweist sich als intelligenter als gedacht, hintergeht Frank sogar, als sein Astronautenkollege Selbstmord begeht. Die Mission droht in einer Katastrophe zu enden. Und dann erscheint ihm genau jener Engel leibhaftig zur Rettung, den er vor vielen Jahren einmal gezeichnet hatte. Ein Zeichen der Hoffnung in einer scheinbar bis ins Letzte durchgeplanten Welt.
Hammerschmitts große Leistung besteht darin anhand eines persönlichen Schicksals den inneren Konflikt unserer technisierten Gesellschaft aufzuzeigen. Wie weit entfernen wir uns von unseren Ursprüngen, indem wir uns einer selbstgeschaffenen künstlichen Scheinrealität anheim geben? Geben wir dadurch unsere eigene Menschlichkeit auf? „Wir sind Geistwesen. Das haben die Religionen schon immer gewußt. Was sie nicht gewußt haben, ist, daß wir Technik brauchen, um es wahr zu machen“, läßt der Autor eine Figur seiner Geschichte sagen. In diesen Worten liegt gleichermaßen Verheißung und Gefahr. Man möchte sie dem kritiklos an sie Glaubenden mit den Worten einer anderen Figur aus dem Text antworten: „Es gibt nur eine Realität, und das ist die, in der Sie sich jetzt gerade befinden. Vergessen Sie das nie.“ Eine Wahrheit mit der Prägnanz eines Philip K. Dicks. Was aber tun, wenn sich die Realitäten permanent verändern?
Marcus Hammerschmitt ist mit seiner Erzählung „Die Sonde“ eine Erzählung gelungen, die philosophische Tiefe aufweist und dennoch zu unterhalten weiß, er hat damit verdientermaßen den SFCD-Literaturpreis 1996 in der Kategorie Kurzgeschichte gewonnen.
Jürgen Thomann
– für das Literaturpreiskomitee –
Juli 1996