Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio bester deutschsprachiger Roman 2021:
Die Sprache der Blumen von Sven Haupt
Die erste Reaktion – Ablehnung: Ein total unpassender Titel für einen Science-Fiction-Roman. Die Sprache der Blumen, da denkt man an die Pflege von Zimmerpflanzen, was gedeiht auf meinem Balkon in Nordlage, oder Wissenschaftliches zum Thema Kommunikation zwischen Blüte und Biene.
Zweite Reaktion – leichte Neugier: Wer so einen seltsamen Titel wählt, was will der mir sagen? Also studiert man die Inhaltsangabe im Internet. Dort findet sich u.a. folgendes: Eine Frau erwacht ohne Erinnerungen in einem Wald voller kryptisch sprechender Bäume und anderer seltsamer Wesen … und einem Schimpansen, der ihr mit seinen sarkastischen Sprüchen jedoch keine wirkliche Hilfe dabei ist, ihre Umgebung zu verstehen. Das hilft auch dem/der Lesenden sehr wenig, weckt aber weiteres Interesse. Also bleibt nichts anderes übrig, als das Buch zu kaufen.
Wir kommen zur ersten Erkenntnis: Der Titel ist eigentlich ein klasse Marketinggag. Ohne es zu merken, hängt man an der Angel und hat den Wurm geschluckt. Und liest. Wir begleiten ein Mädchen namens Lilian, geboren aus einer riesigen violetten Frucht, auf ihrer Entdeckungsreise durch einen fantastischen Urwald voller skurriler Geschöpfe. Das Wundersame der Umgebung weckt Anklänge an »Alice im Wunderland«. Statt der Grinsekatze tritt hier ein grummeliger Schimpanse namens George auf, der mit sarkastischen Kommentaren und bissigen Bemerkungen nicht geizt, aber im Ernstfall auch durchaus hilfreich sein kann. Es gibt Wasserfrüchte zum Duschen, Handtücher wachsen in Schoten und Kleider an Bäumen. Statt des verrückten Hutmachers und des Märzhasen treten hier u. a. Rufer, Putzmuffel, Baumkrebse und Quasselfichten auf. Erstaunlicherweise fühlt man sich in dieser surrealen Umgebung sofort zuhause, so glaubhaft und realistisch schildert der Autor diese fremde Welt.
Alles Leben ist hier rein pflanzlich, auch wenn es tierische Formen imitiert. Lilian freundet sich mit dem Nachtrufer Tutut an, der wie folgt beschrieben wird: ein Flatterball aus blauem Gras mit Augen in Form von rosa Blüten und einem langen Blütenkelch als Schnabel, der traurig hupt. Und sie erkennt bald, dass auch sie eine Pflanze ist, ein Teil dieser Welt mit chlorophyll-grünem Blut. Aber wenn diese Welt kein tierisches Leben kennt, wer oder was ist dann George? Einerseits ist er das einzige Wesen, das als reales Tier beschrieben wird, andererseits fließt auch in seinen Adern grünes Blut. Er ist ein Produkt der Welt, ohne wirklich dazuzugehören. Wer mehr wissen will, muss das Buch bis zum Ende lesen.
Der Urwald entpuppt sich als riesiger Weltenbaum, und Lilian macht sich auf den Weg zu seinen Wurzeln. Wie bei Alice beginnt die Reise witzig und bunt, um unbemerkt immer gefährlicher und düsterer zu werden. Der Weg zur Erkenntnis an und in den Wurzeln des Weltenbaums will erkämpft und durchlitten werden. Diese Erkenntnis ist dann umso überraschender. Ohne zu viel verraten zu wollen: Haupt schafft im letzten Drittel des Buches den Weg zur harten, apokalyptischen Science-Fiction. Wie er wohl sagen würde: Raumschiffe, aber keine Raumschlachten. Zusammen mit Lilian erkennen wir, alles ist ganz anders als gedacht. Eigentlich müsste man nach dieser Eröffnung das ganze Buch nochmals lesen, um immer wieder sagen zu können: »Ach, so ist das!« Andeutungen bietet der Text reichlich, man muss sie nur finden.
Die wirkliche Hauptperson ist für mich allerdings der Affe George. Sein ambivalentes Verhalten irritiert und reizt nicht nur Lilian. Er zitiert klassische Literatur und wirft mit Bananenschalen. Manchmal wirkt er albern und erinnert an „George of the Jungle“, dann wieder gibt er den faustischen Mephistopheles – »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« Der Satz fällt zwar nicht im Buch, wäre aber eine perfekte Charakterisierung, dessen Wahrheitsgehalt sich erst auf den letzten Seiten erschließt. Denn George ist wie gesagt nicht von dieser Welt.
Der Reiz dieses Buches besteht wie bei der Figur George in seiner ambivalenten Vieldeutigkeit. Man kann es als launige Fabel lesen, denn nur in Fabeln und Märchen können Tiere sprechen. Man kann es als Entwicklungsroman lesen, in dem Lilian vom Mädchen zur Frau und Hüterin heranreift. Man mag den Text psychologisch interpretieren, wie das Sven Haupt auf seiner Webseite elektrischerengel.com u. a. anbietet: Sind Lilian und George zwei Seiten einer Person, die am Baum der Erkenntnis hinuntersteigt zum eigenen wilden Unterbewusstsein? Und man kann ihn als fantasievolle Science-Fiction lesen, in der es um künstliche Intelligenzen und eine ferne Zukunft nach mindestens einer Apokalypse geht. Wie heißt es so schön: Eine weit fortgeschrittene Technologie ist nicht von Magie zu unterscheiden.
Last, but not least finden sich auch viele religiös inspirierte Elemente: Der Weltenbaum erinnert an Yggdrasil, die Weltenesche der nordischen Mythologie. Auch an deren Wurzeln lauern sowohl das Unheil in Form des leichenfressenden Drachen Nidhögg als auch das allumfassende Wissen, vermittelt von den Nornen. Lilians orange Robe und kahler Kopf, aber auch ihre Weltsicht lassen uns an Buddhismus denken. Gut und Böse im Wechselspiel tauchen in allen Religionen auf, die terminale Einsicht in den wahren Grund der Welt erinnert an den Baum der Erkenntnis und Adam und Eva. Vielleicht ist George Adam, vielleicht die Schlange, oder beides oder keins von beidem.
Das ist die zweite Erkenntnis: Das Buch verweigert sich jeglichem Schubladendenken. Es ist eine mehrbödige Phantasmagorie, ein real gewordener Traum oder Albtraum, ein modernes Märchen, das in einer fernen Zukunft spielt, ein verschachteltes literarisches Gleichnis, ein poetisches Gemälde auf einer Leinwand aus Laub.
Was bleibt, wenn der Buchdeckel zufällt? Als Erstes wunderschöne Bilder von einer riesigen Blüte am Himmel über einem tiefgrünen Dschungel auf einem riesigen Baum voller fantastischer, bunter, lustiger, listiger, gefährlicher Bewohner. Dann das Bedauern, dass der wunderbare Traum schon zu Ende geht. Hier gibt es keine Fortsetzung, keine Sequels, wir sind aufgewacht, und es wird niemals wieder so sein wie vorher. Beim Nachdenken kommen die Fragen. Mit jeder Interpretation neue Fragen an das Buch und an sich selbst. Welche Ungeheuer schlummern in der Tiefe meiner Seele? Bin ich ein guter Mensch, und was ist das überhaupt, wenn das Böse essenziell ist, um das Gute hervorzubringen? Wer bin ich, wenn ich wie Lilian aufwache, ohne Erinnerung, ohne Vergangenheit? Was bleibt, wenn ich alle Rollen ablege wie einen zu weit gewordenen Mantel und nackt dastehe? Ecce homo für den Lateiner.
Dritte Erkenntnis: Ein Buch wie das Leben – endlich und ewig zugleich. Voller Falltüren, hinter denen der Tod oder die Belohnung warten. Voller Humor, Witz, Hintersinn, Lust und Leiden, aberwitziger Gefahren und unerwarteter Gefährten. Ein Buch, das gut und gerne 500 Seiten mehr verdient hätte. Eine Geschichte, die unendlich viel Spaß macht und sich hinter seinen literarischen Vettern wie »Alice im Wunderland« oder »Die unendliche Geschichte« nicht verstecken muss. Ein Buch für alle Generationen.
Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Die Sprache der Blumen« trotz des gewöhnungsbedürftigen Titels mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2021 auszuzeichnen
Dr. Roland Stephan
– für das Preiskomitee –
im November 2021