Laudatio 2022 Bester deutschsprachiger Roman

Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio bester deutschsprachiger Roman 2022:
»Stille zwischen den Sternen« von Sven Haupt
Eridanus Verlag, 362 Seiten, ISBN-13 978-3-946348-29-0

Jane, die künstliche Intelligenz an Bord eines revolutionären Raumschiffprototyps, hat bei einem Einsatz ihr Schiff und ihre Pilotin verloren. Für das militärische Oberkommando ist dieser Verlust eine Katastrophe, die einen Schuldigen verlangt. Langsam, Stück für Stück, setzen sich aus Tagebüchern und Aufzeichnungen die Geschehnisse wie ein Puzzle zu einem Bild zusammen, in dessen Mittelpunkt Major Hien Otis steht: tollkühne Draufgängerin, geheimnisumwitterte Heldin in einem legendären Raumschiff. Nur eine Handvoll Eingeweihter weiß, dass sie dieses Schiff nicht nur fliegt, sie ist das Schiff, denn ihr Bewusstsein wurde vollständig in die Schiffssysteme integriert – ein Experiment, das bisher nicht erfolgreich wiederholt werden konnte. Der kümmerliche Rest ihres Körpers, von Schläuchen durchbohrt, wird in einem Tank an Bord am Leben erhalten. Die KI Jane ist ihre einzige Bezugsperson. Offiziell soll Jane die geniale, aber unberechenbare Pilotin unterstützen, inoffiziell aber unter Kontrolle halten.

Als Hien und Jane den Auftrag erhalten, das mysteriöse Verstummen einer streng geheimen Forschungsstation weit draußen im All zu untersuchen, zeigt sich, dass das Militär in Wahrheit nur daran interessiert ist, seine Geheimnisse zu wahren. Wilson, der einzige Überlebende, ist wie Hien ein Pilot, dessen Bewusstsein ein Raumschiff steuern soll, während sein Körper in einem Tank steckt. Getreu seinen Befehlen versucht er zunächst rigoros, das Kommando zu übernehmen und die dem Militär missliebig gewordene Hien loszuwerden, doch die Entdeckung einer Weltraumanomalie ändert alles.

In »Stille zwischen den Sternen« skizziert Sven Haupt eine Welt, in der die Menschheit ins All aufgebrochen ist, eine Welt der Kriegsschiffe und künstlichen Intelligenzen und der geheimen Experimente. Aber der erste Eindruck täuscht. Hier handelt es sich nicht um eine actionreiche Space Opera. Das martialische Setting bildet den Hintergrund für die in ruhigen, fast schon poetischen Bildern erzählte Geschichte einer Suche – einer Suche, die Hien, Jane und Wilson in die Tiefen des Alls führt, zugleich aber auch tief hinein in ihr Innerstes. Je näher sie der Lösung des Rätsels kommen, desto mehr nähern sie sich auch der Erkenntnis, was sie an diesen Ort gebracht hat und wie weit sie zu gehen bereit sind. Wie in einem Kammerspiel werden nach und nach die Beweggründe der Charaktere aufgedeckt.

Hien ist die klassische Außenseiterin, von schwacher körperlicher Konstitution, menschenscheu und geplagt von Phobien und Alpträumen, aber bewehrt mit einem schier übermenschlichen Intellekt und einem unbändigen Willen. Sie will nur fliegen, um zu den Sternen zu gelangen. Für sie sind die Sterne wie göttliche Wesen, die sie auf ihrem Weg beschützen und deren Ruf sie hören kann. Sie sehnt sich nach ihrem goldenen Licht, in dem sie sich verlieren will. Die Stille, das Nichts weit draußen am Rand der Galaxis, verkörpert für Hien die Erlösung von den Sorgen und Ängsten, die sie quälen. Die Radikalität, mit der sie ihr Ziel zu erreichen versucht, wirkt auf den ersten Blick erschreckend. Ihren Körper empfindet sie nur als Beschränkung. Sie hat ihn aufgegeben, ihn zurückgelassen im Tausch für all die erweiterten Sinne und Fähigkeiten, die ihr das Raumschiff bietet. Sven Haupt bricht hier eine Lanze für das Anderssein, lässt uns tief eintauchen in Hiens kompromisslose, unverstellte Art, die Welt zu sehen. Hien ist zugleich Genie an der Schwelle zum Wahnsinn und staunendes Kind. Aber genau diese Art zu denken lässt sie am Ende erkennen, was hinter der Anomalie steckt.

Während Hien ihrer Menschlichkeit entflieht und sich immer mehr dem reinen Intellekt annähert, geht Jane den umgekehrten Weg. In völliger Abkehr von gängigen Vorstellungen sind Jane und die anderen künstlichen Intelligenzen in Sven Haupts Roman keine rein rational agierende übermächtige Bedrohung, sondern zu Empfindungen fähig und bemüht, die Beweggründe der Menschen zu verstehen. Janes größtes Bestreben ist es, menschlicher zu werden. Sie, die keinen Körper besitzt, kann nicht verstehen, dass Hien ihr Körper nichts bedeutet. Die Stille, die Hien so verzweifelt zu erreichen versucht, bedeutet für Jane den Verlust des Menschen, den sie liebt.

Und dann ist da noch Wilson, der Vorzeigesoldat, der erkennen muss, dass ihn das Militär getäuscht und missbraucht hat. Er beneidet Hien um ihre Fähigkeiten, leidet jedoch insgeheim unter seiner Transformation, die er nicht mehr rückgängig machen kann. In einer der berührendsten Szenen des Romans blickt der Leser durch seine Augen auf seine Hände, die von innen gegen das Glas seines Tanks drücken.

Bedingt durch die Natur der Protagonisten spielt sich der Großteil der Handlung in der virtuellen Realität ab, in deren metaphorischem Herz sich eine von Jane geschaffene Simulation befindet. Der kriegerischen, fast ausschließlich durch Männer repräsentierten Außenwelt setzt sie in dieser Simulation die Plüschigkeit und Beschaulichkeit eines viktorianischen Salons entgegen, in der sie uns in der anachronistischen Gestalt einer Gouvernante mit Reifrock und Korsett begegnet und den Auftrag der Militärs auf ihre eigene Weise auslegt. Hier, wo die Uhren noch anders gehen und jedes Problem mit einer Tasse Tee besprochen wird, findet Hien bei Jane Verständnis und Geborgenheit, die sie von ihren durch ihre Andersartigkeit überforderten Eltern nie erfahren hat. Trotzig erschafft Wilson nebenan seinen eigenen maskulin verbrämten edwardianischen Salon, doch schon bald mutiert er unter Hiens anarchischem Einfluss vom bärbeißigen Gentleman zum Teddybär.

Mit spritzigen Dialogen und feinem Humor gelingt es Sven Haupt, die philosophischen Fragen, die er aufwirft, wunderbar leicht und ohne Pathos zu behandeln: Was macht uns eigentlich zum Menschen? Kann eine künstliche Intelligenz menschlich sein? Kann sie lieben? Und ist ein menschliches Bewusstsein ohne Körper noch immer ein Mensch?

Immer deutlicher wird jedoch, dass es am Ende auf die älteste Frage von allen hinausläuft: Sind wir allein oder ist dort draußen jemand, ganz gleich, ob wir dieses Wesen nun »Gott« nennen oder ein Geschöpf aus einer anderen Dimension. Sven Haupt überlässt es uns, darauf eine Antwort zu finden. Hien aber muss sich schließlich entscheiden, ob sie die letzte Grenze überschreiten oder ihr Leben retten will.

Das Preiskomitee freut sich, »Stille zwischen den Sternen« von Sven Haupt mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2022 auszeichnen zu können.

Christine Witt
– für das Preiskomitee –
im August 2022