Laudatio 2022 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

Deutscher Science-Fiction-Preis
Laudatio beste deutschsprachige Kurzgeschichte 2022:
»Utopie27« von Aiki Mira (Pseudonym)
in »Am Anfang war das Bild«, herausgegeben von Uli Bendick, Aiki Mira und Mario Franke,
Hirnkost, ISBN-13 978-3-949452-15-4

»Jetzt, da mein Bruder Kajin tot ist, verbringt er mit mir mehr Zeit als je zuvor. Ich dachte immer, die Toten verschwinden, aber das stimmt nicht, sie wachsen nur tiefer in uns hinein.«

Lus Bruder war ein erfolgreicher Gamer, vor kurzem ist er gestorben. Die Beziehung der jungen Geschwister, die ihre Eltern früh verloren haben, war sehr intensiv. Seit dem Tod ihres Bruders Kajin vegetiert Lu vor sich hin und geht nicht mehr aus dem Haus. Sie lebt in einer furchtbar heruntergekommenen Wohnung, in der Essensreste vor sich hin gammeln. Jeden Tag trifft sie Kajins digitales Ich im digitalen Jenseits, in der Utopie26.

Lu gestaltet und organisiert virtuelle Gedenkseiten und Bestattungsfeiern. Wir erfahren von ihren Problemen mit dieser Arbeit und davon, wie die Menschen ihrer Welt mit dem Tod umgehen: »Am Ende bleiben nur Fotos und Videos. Sie brennen sich ein, als wären sie echte Erinnerungen.« In ihrer Welt werden junge Menschen nicht mehr alt: »Wie die Setzlinge […] brechen sie beim ersten Sturm oder vertrocknen bei der ersten Dürre«.

Lu, die von ihrem Bruder das »zerknautschte Vögelchen« genannt wurde, verliert sich mehr und mehr in einer virtuellen Realität: »Im Flug fühle ich mich wohl, im Herzen der Menge, im Auf und Ab der Bewegung, zwischen dem Flüchtigen und dem Unendlichen«. Dann erklärt ihr Kajins digitale Kopie, dass er und alle anderen digitalen Bewohner von Utopie26 sich zusammengeschlossen haben und weiterziehen werden. Utopie26 und damit ihr Bruder, dessen Name »Wo ist das Leben?« bedeutet, sind nicht mehr für sie erreichbar.

Lus Welt ist kaputt, aber die Beziehungen unter den Menschen sind es noch nicht ganz. Nachbarn helfen ihr: Sie geben ihr Essen, reparieren ihr Bad. Es gibt Solidarität unter den Menschen. Leider nützt dies alles nichts, die Geschichte endet nicht gut für Lu. In einem mehrdeutigen Ende heißt es: »Dann schließe ich die Augen und fliege – «

Die Geschichte ist vielschichtig, emotional berührend, komplex und stilistisch hervorragend mit  Sätzen wie: »Ich lausche einen Moment lang dem unergründlichen Klang der Tuba, der wie ein Duft durch die Wände strömt.«

Sie ist exzellent im Spannungsfeld platziert zwischen »vertraut wirkender« Near-Future und deutlich abgesetzter Zukunftstechnologie. Kraftvolle dystopische Elemente dringen durch die Zeilen, werden gezeigt und so für die Lesenden erlebbar gemacht. Elegante Formulierungen und kreative Wortschöpfungen geben sich die Hand. Aiki Mira arbeitet mit Bildern und bemerkenswerten Details zu Nebenfiguren, die nicht mehr aus dem Kopf wollen.

Das allmähliche Abdriften der Hauptfigur Lu, ihr Rückzug in sich selbst und der Verlust des Realitätsbezugs werden überzeugend geschildert. Hinzu kommt ihre nicht nur beruflich bedingte Faszination für den Tod. »Von allen Seiten zugleich schwappte das Dunkel an mich heran.« Dieses Zitat beschreibt den Kern der Erzählung und verweist auf das Ende. In der Welt von Lu und Kajin haben gerade Jugendliche das Gefühl, ganz allein übrig geblieben zu sein, während alle anderen schon tot sind. Wie auch wir beim Lesen kann Lu nicht mehr einschätzen, was wirklich und was nur Einbildung ist. Ist Lu ein simuliertes Bewusstsein in Utopie27, der neuen Version, in der »das digitalisierte Bewusstsein nicht [weiß], dass es in einer simulierten Umgebung existiert«? Ist sie also schon tot und weiß es nur noch nicht? Denkt Lu, sie würde sich in Utopie27 befinden und begeht am Ende keinen Suizid, sondern entflieht lediglich der simulierten Welt von Utopie27? Oder ist sie noch in der realen Welt und auf dem Weg, ihr Leben unbeabsichtigt zu beenden, wie es möglicherweise auch Kajin passiert ist?

Eine intensive Geschichte, die einen Einblick in die gequälten Seelen vieler Jugendlicher bietet. Sie zeigt den Schmerz und die emotionale Belastung, die durch den Verlust eines geliebten Menschen entstehen kann. Die Geschichte beschäftigt sich mit Trauer und Tod, aber auch mit der Suche nach sich selber, der eigenen Bestimmung und einem Zuhause.

Eine Geschichte, die nach dem Lesen lange nachwirkt.

Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Utopie27« von Aiki Mira mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2022 auszuzeichnen.

Yvonne Tunnat, Franz Hardt
– für das Preiskomitee –
im August 2022