Fritz Schmoll:
Kiezkoller
Der Kreuzberger Kiez ist zur „angstfreien Zone“ erklärt worden. Die eigenen Gefühle wie die der anderen lassen sich mit einem schnellen Blick auf den Body-Sensor erkennen, den jeder am Körper trägt; die zugehörige Technik stammt aus Thailand.
Landwirtschaftlich ist Kreuzberg autark, nach außen hin schottet man sich ab, etwa um das Eindringen marodierender Kinderbanden oder den Schmuggel mit hochwertigen Fünfgang-Fahrrädern, zu denen man etwas neidisch nach Osten über die Spree blickt, zu verhindern.
Homosexualität ist die grundlegende Verhaltensnorm geworden. Für die wenigen Hetero-Pärchen wird zwar Toleranz geheuchelt, in Wirklichkeit begegnet man ihnen aber voller Unverständnis und Spießigkeit. Frauen und Männer leben in getrennten Wohngemeinschaften, die für den Kiez wichtigen Entscheidungen werden regelmäßig im Plenarzelt der Matronen getroffen.
In einer derart skizzierten Umwelt schildert Fritz Schmoll einen kurzen, aber entscheidenden Ausschnitt aus dem Leben der Beziehungsarbeiterin Zetta und des Bullen Grep, ihr Zueinanderfinden, ihre Fluchtpläne und das letztendliche Scheitern der Flucht.
Der größte Teil des Romans wird dabei aus der Sicht Greps erzählt, der in der „angstfreien Zone“ Angst davor bekommt, einen Kiezkoller zu bekommen – zum einen, weil er die Leiche eines Mannes entdeckt, die am nächsten Tag verschwunden ist, zum anderen aufgrund seiner erwachenden Erkenntnis, hetero- und nicht homosexuell veranlagt zu sein.
Im zweiten und dritten Kapitel wirft der Autor zwei kurze Blicke nach Bangkok bzw. auf eine der Kinderbanden. Diese Abschweifungen erfüllen neben der Einführung neuer Charaktere – wie überhaupt das ganze Buch sehr gelungene und glaubwürdige Charakterisierungen bis in die Nebenpersonen hinein enthält – vor allem den Zweck, den Leser Klarheit darüber gewinnen zu lassen, ob er es hier eigentlich mit einer Anti-Utopie zu tun hat. Er hat es nicht!
Weit entfernt von den ja auch paranoiden klassischen Anti-Utopien Huxleys oder Orwells, zeichnet Schmoll in seinem Roman eine Welt, für die wir alle möglicherweise die Verantwortung tragen werden. Einen „Großen Bruder“ gibt es in dieser Zukunft nicht.
Die gekonnt extrapolierten Tendenzen der Gegenwart wurden in sich schlüssig und immer überzeugend aufgearbeitet, selbst in den seltsamsten Szenen und Begebenheiten.
Fritz Schmoll schildert in „Kiezkoller“ Menschen, die sich an eine veränderte Umgebung angepaßt haben. Sie werden durch seine Sprache und die Phantasie der Leser quasi zum Leben erweckt, und dies ist für einen Romanerstling eine erstaunliche Leistung.
Das Literaturpreiskomitee war sich bei der Vergabe des SFCD-Literaturpreises 1989 in der Kategorie Roman ähnlich einig wie im letzten Jahr. Nur eines der an der Endauswahl beteiligten Jurymitglieder setzte das Buch nicht auf den ersten Platz. Man war beinahe durchgehend der Meinung, daß es sich bei „Kiezkoller“ um einen der besten Romane der deutschen SF in den letzten Jahren handelt.
Christian Mathioschek
– für das Literaturpreiskomitee –