Laudatio 1999 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

Michael Marrak:
Die Stille nach dem Ton

Radiant, die Hauptfigur von „Die Stille nach dem Ton“ sieht gerade fern, es läuft „Brazil“ von Terry Gilliam, als der Blitz ins Haus einschlägt. Danach kann sein Fernseher nur noch Kanal 6 empfangen. Dieser entpuppt sich als das Medium GOTTES. Alles was Radiant dort sieht, verschwindet aus der Wirklichkeit, ohne Spuren zu hinterlassen. Zuerst sind es die Glocken, dann die Hunde, schließlich Bäume. Und das ist nicht das Ende. Verzweifelt und verstört sucht Radiant nach Spuren in den Köpfen der Menschen, in Büchern. Aber nur er kann sich erinnern, daß es all dies gegeben hat. Warum nur er? Im Schlaf betritt er Gottes Welt und erfährt von ihm, was geschieht. Die Welt, oder genauer das Sonnensystem wird defragmentiert, in seine Bestandteile zerlegt und soll später wieder aufgebaut werden, und er, Radiant, soll dabei eine entscheidende Rolle spielen. Da alles nach Plan verläuft, solle er sich keine Sorgen machen.

Das Phantastische braucht immer eine reale Basis, um sich wirkungsvoll entfalten zu können. So ist es auch in dieser Erzählung. Radiant ist ein durchschnittlicher Charakter, der mehr reagiert als daß er agiert. Und die Stadt, in der er lebt und die Defragmentierung erlebt, ist durch charakteristische Örtlichkeiten eindeutig als Stuttgart zu erkennen.

Mit seiner einzigartigen Phantasie und seiner Sprachmächtigkeit gelingt es Michael Marrak immer wieder und besonders in dieser Erzählung, Phantastisches plastisch und sinnlich vor die Augen des Lesers treten zu lassen. Die so geschaffenen Welten sind so eigenwillig und entziehen sich einem oberflächlichen Begreifen, daß jede Beschreibung fast zwangsläufig zu einer Nacherzählung werden muß. So auch in dieser Geschichte, in der Gott, das religiöse Standardprogramm, drei Augen hat und in immer neuen ausgefallenen Kostümierungen auftritt und in der hundelosen Welt Bären die Rolle der Blindenführer übernehmen.

„Die Stille nach dem Ton“ läßt sich nicht einem Genre zuordnen und verweigert sich auch einem eindeutigen Sinn. Sie ist spekulativ und phantastisch, hat aber auch groteske Züge. Nicht zuletzt liegt ihr eine große innere Spannung zugrunde. Und am Ende wird der Leser entlassen, mit einer Ahnung davon, wie die Welt auch beschaffen sein kann.

All dies hat das Komitee dazu bewogen, „Die Stille nach dem Ton“ von Michael Marrak mit dem Deutschen Science Fiction Preis für die beste Erzählung des Jahres 1998 auszuzeichnen.

Michael Baumgartner
– für das Preiskomitee –
Mai 1999