Laudatio 2003 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

Arno Behrend:
Small Talk

In der Science-Fiction-Literatur gibt es zwei Arten von Alternativwelten. In der einen hat man keine Alternative. Die Romanfiguren kennen nur diese eine Welt und müssen in ihr so zurecht kommen wie der Leser in seiner eigenen Realität. Manipulieren kann hier nur der Autor, indem er nach seinen persönlichen Vorlieben ins Räderwerk der Geschichte eingreift. Und der größte Schaden, den er dabei anrichten kann, liegt im Einstampfen der Restauflage, wenn das Werk auf zu geringe Resonanz stößt.

Ob die andere Welt zugleich die bessere wäre, mag der Leser entscheiden. Ein jeder kann sich wohl Eingriffe in die persönliche Vergangenheit vorstellen, ein kleiner Schubs in die richtige Richtung, und der ein oder andere Schicksalsschlag wäre einem erspart geblieben. Oder man erhofft sich etwas, das man nicht erreichen kann, weil die Umstände es nicht zulassen. Wenn es gar noch um eine Frau geht, die man um alles in der Welt besitzen möchte, gerät man leicht in Versuchung, alles in der Welt dafür zu opfern – oder besser gesagt: die gerade existierende Welt.

In der zweiten Variante von Alternativweltgeschichten sind solche Eingriffe möglich, meist mit oder ohne Absicht durch Zeitreisende ausgelöst. Das geht meistens ins Geld, und demzufolge bestimmen Wirtschaft oder Politik, wo und wie der Geschichtsverlauf manipuliert wird. Was aber, wenn die Zeitreise mittels mentaler Techniken preiswerter zu bewerkstelligen ist und man mit dieser Methode auch in den Kopf einer ausgewählten Person eindringen kann? Wer würde da als Erfinder der Versuchung widerstehen können, zum eigenen Vorteil etwas abzuzweigen?

Und so hatte ein gewisser Volker Degenhardt keine Hemmungen, in die Gedanken eines gewissen Kolumbus einzudringen und zu einer Reise über den Atlantik zu animieren. Allerdings hieß er damals nicht Degenhardt, das wäre für einen Inka auch ein recht seltsamer Name gewesen. Und statt „damals“ wäre vielleicht „wennmals“ treffender, denn in der Welt, in die er hineingeboren wurde, hatte sein Volk sich ungestört durch europäische Eroberer so weit entwickeln können, dass es nach Osten aufbrach und sich große Teile der Alten Welt einverleibte. Trotz wirtschaftlicher Fortschritte überlebten zahlreiche Traditionen jedoch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, und auch wenn sich in den jüngeren Bevölkerungsgruppen Widerstand regte, konnte man nicht darauf hoffen, dass die Klassenschranken zur Angebeteten in absehbarer Zeit fallen würden.

Nun steht unser Held im Jahre 1949 am Rande einer universitären Veranstaltung, während das Ziel seiner Begierde das Zentrum männlicher Bewunderer ist. Seine Manipulationsversuche am kürzlich entwickelten Chronoskop wurden entdeckt, mit dessen Hilfe er die Vergangenheit erneut in seinem Sinne zurechtbiegen wollte. Und die Projektleiterin, die ihm und insbesondere seinem Motiv auf die Schliche kam, ist über den Missbrauch der Apparatur dermaßen schockiert, dass sie die Erfindung mittels Chronoskopie aus der Welt schaffen will. Aber was kann es schon schaden, wenn bei dieser Aktion auch ein positiver Nebeneffekt für sie selbst abfällt?

Weltreiche entstehen und vergehen innerhalb weniger Absätze, nur weil man sich mit dem eigenen Schicksal nicht zufrieden gibt. Da verändert jemand die Geschichte; das Bewusstsein bestimmt also das Sein. Andererseits glaubt er, er könne damit einen Menschen verändern – nach dem Motto: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Aber man kann ihm schlecht zum Vorwurf machen, dass er zu brutalen Mitteln greift. Er tauscht ja lediglich die Unterwerfung der Westeuropäer gegen die Unterwerfung der Inka aus, so wie wir sie kennen. Das heißt, wir kennen sie in etwa so.

Alternativweltgeschichten sind ein Spiel, in der Kurzform noch schwerer zu beherrschen als im Roman. Sie verlangen von Autor und Leser eine gehörige Portion Hintergrundwissen. Einiges muss erklärt, mehr noch angedeutet werden, damit sich die Einzelteile zu einem hoffentlich stimmigen Bild zusammenfügen.

Arno Behrend gelingt das Kunststück, die Handlung überwiegend durch den Dialog zweier Personen voranzutreiben. Hier sind es nicht die Mächtigen, die aus freier Entscheidung den Lauf der Geschichte bestimmen, sondern die im Leben zu kurz Gekommenen. Geschichtliche Persönlichkeiten sind in ihren Händen Marionetten, mittels derer sich die Welt hoffentlich so umgestalten lässt, dass sich persönliche Vorteile erzielen lassen.

Auf der einen Seite haben wir die Welt als Bühne, auf der anderen Seite eine akademische Feier als Bühne eitler Selbstdarstellung. Im Großen wie im Kleinen werden wir von denselben Motiven getrieben – Streben nach höheren gesellschaftlichen Positionen, Anerkennung, Macht. Jeder setzt dabei die Mittel ein, die ihm zur Verfügung stehen, ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen, und die Beseitigung eines Schadens ruft unter Umständen einen noch größeren Schaden hervor.

Die Begegnung zweier Menschen ist der Kristallisationskeim dieser Erzählung, und der daraus entstandene Kristall hat viele Facetten, die zum Nachdenken anregen. Die Kunstfertigkeit, mit der Arno Behrend dieses Werk zurechtgeschliffen hat, veranlasst das Preiskomitee des Deutschen Science Fiction Preises, ihm den Preis für die beste Kurzgeschichte 2003 zu verleihen.

Thomas Recktenwald
– für das Preiskomitee –
September 2003