Laudatio 1993 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

Norbert Stöbe:
10 Punkte

Einig war sich das Komitee in seiner Bewertung in einem Punkt: Eigentlich hätte diese Story von jedem einzelnen Komiteemitglied zehn Punkte bekommen sollen – da aber für die Bewertung 15 Punkte die Höchstzahl sind, war die Story für diesen Gag zu gut – und deshalb hat sie auch gewonnen.

Martin ist süchtig. Weder nach Alkohol noch nach Zigaretten. Nicht fehlendes Kokain oder Heroin bringen ihn auf Entzug, aber ein dreitägiger Stromausfall wäre schlimm.

Martin ist ein Spacer. Aus Frust über Arbeitslosigkeit und eine wenig ansprechende Umwelt zieht er sich zurück und geht mit Hilfe seines Computers auf Reisen – in fremde Abenteuerwelten, wo er Held sein kann. Schön, wohlhabend und erfolgreich, ein verwegener Abenteurer, der sich allen Herausforderungen stellt und der siegt – all das, was er in seiner wirklichen Umgebung längst nicht mehr sein kann.

Und in seinem derzeitigen Lieblingsspiel geht er auf Saurierjagd. Eine ausgefeilte Technik läßt ihn das Abenteuer erleben, und es kommt wie es kommen muß, er dringt immer weiter in die Traumwelt ein – oder die Traumwelt dringt immer weiter in ihn ein? – und zieht sich aus seiner Realität zurück. So wundert es auch nicht, daß es Martin unmöglich wird, seiner Saurierwelt zu entfliehen, daß die Realität zwar dort einbricht, er sie aber nicht mehr erreichen kann.

„Eine gewagte Mischung aus Urwaldszenario und Aachener Lokalkolorit“ schreibt ein Komiteemitglied, und von uns allen wurde der Story Spannung und eine flotte Schreibweise des Autoren bescheinigt. Das Thema ist aktuell und die technischen Entwicklungen sind weit genug fortgeschritten, daß Spiele wie die Saurierjagd in Aachen in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft über unseren Bildschirm flimmern könnte.

In einem Land mit hunderttausenden von Süchtigen und Millionen von Gefährdeten ein weiterer Weg, die Realität zu verlassen.

Trotz eines warnenden Untertons eine Geschichte ohne den erhobenen Zeigefinger – ein würdiger Preisträger des SFCD-Literaturpreises 1993 in der Sparte Kurzgeschichte.