Laudatio 1991 Beste deutschsprachige Kurzgeschichte

Andreas Findig:
Gödel geht

Im November 1929 hat der damals 23 Jahre alte Mathematiker Kurt Gödel im Wiener Café „Museum“ eine merkwürdige Begegnung. Während er dort, zwei Jahre vor Erscheinen seiner berühmtesten Abhandlung, erste Ansätze dazu in sein Notizbuch schreibt, nimmt er plötzlich wahr, daß sein Spiegelbild, Gödel II, ein Eigenleben entwickelt, am Ende sogar aus dem Spiegel tritt und darum bittet, an seinem Tisch Platz nehmen zu dürfen.

Es entwickelt sich ein aus verständlichen Gründen zunächst stockendes, dann immer lebhafter werdendes Gespräch über die Mathematik und die Welt. Der eher schüchterne Gödel I erfährt von seinem auch charakterlich spiegelbildlichen Gegenüber einiges über die „Welt hinter den Spiegeln“, insbesondere daß dort auch die Zeit gespiegelt wird, somit rückwärts läuft. Dadurch weiß Gödel II, was Gödel I bevorsteht, und er erklärt ihm in groben Zügen die nicht gerade erfreulichen politischen Entwicklungen der kommenden Jahrzehnte. Angesichts dieser Tendenzen ist Gödel I nur allzu gerne bereit, anstelle von Gödel II in den Spiegel zu gehen, während letzterer die zukünftigen Arbeiten Gödels, die für ihn ja Vergangenheit sind, niederschreiben wird. Und er scheint nicht der einzige Gelehrte zu sein, der mit seinem Spiegelbild getauscht hat…

Zwangsläufig muß eine Geschichte, die in einem einzigen Raum, noch dazu im fast abgeschlossenen System eines Wiener Caféhauses spielt, vom Dialog leben. Und das Zusammentreffen jenes berühmten Mathematikers, dessen umwälzende Erkenntnisse erst ein halbes Jahrhundert später ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit dringen, mit seinem Spiegelbild bietet reichlich Gelegenheit dazu, schließlich muß die Tatsache, daß sich ein Spiegelbild so gänzlich unerwartet verhält, ja mathematisch und physikalisch erklärt werden. Derweil laufen in der Umgebung der beiden Gesprächspartner die typischen – für einen Außenseiter eher unverständlichen – Rituale einer Wiener Caféhaus-Gesellschaft ab, die jedoch offenbar ebenfalls physikalischen Regeln (oder eher Ausnahmen) gehorchen.

Man mag sich darüber streiten, ob diese Erzählung eher der Phantastik als der SF zuzuordnen ist, in ihrem satirischen Unterton ist sie jedenfalls mit letzterer verwandt. Liebevoll und detailversessen wird der Mikrokosmos des Cafés beschrieben, und es fehlt nicht an Anspielungen auf Wiener Gesellschaft und Politik der ausgehenden Zwanziger Jahre. Dies alles ist in einem Stil und Tonfall gehalten, die das Lesen zu einem Vergnügen machen. Dem Autor ist das Kunststück gelungen, Spannung und Beschaulichkeit zu vereinen.

Thomas Recktenwald
– für das Literaturpreiskomitee –